Die Zeit drängt: Damit der Koalitionsvertrag nicht zu einem bloßen Lippenbekenntnis verkommt, muss die Ampel jetzt konsequent handeln. Es braucht echten politischen und gemeinsamen Gestaltungswillen, damit die Digitalisierung in Deutschland nachhaltig, fortschrittlich und grundrechtskonform vorankommt. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte, Wikimedia Deutschland, Reporter ohne Grenzen, Algorithm Watch und Open Knowledge Foundation Deutschland fordern als gemeinsames Bündnis F5 von der Bundesregierung, vier wichtige Vorhaben anzugehen.
Zivilgesellschaft einbinden
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung heißt es, man wolle die Zivilgesellschaft besser in digitalpolitische Vorhaben einbinden und sie unterstützen. Eine Entwicklung in diese Richtung ist punktuell sichtbar, von struktureller Einbindung kann jedoch weiterhin keine Rede sein. In Gesetzgebungsverfahren und Konsultationen wird die praxisnahe Expertise zivilgesellschaftlicher Organisationen viel zu wenig ernst genommen und berücksichtigt.
Dies zeigt sich insbesondere bei sehr grundrechtssensiblen Vorhaben im Bereich der Sicherheitsgesetze. Extrem kurze Fristen für Stellungnahmen konterkarieren eine wirksame Beteiligung. Die Frist zur Verbändeanhörung zur neuen Reform des BND-Gesetzes betrug beispielweise nur 24 Stunden.
Eine demokratische und nachhaltige Digitalisierung kann nur mit vielfältigen zivilgesellschaftlichen Perspektiven gelingen – es fehlt jedoch teilweise an politischem Willen, an wirksamen Strukturen und an sorgfältig durchdachten Konzepten für demokratische Beteiligung. Für echte Mitgestaltung müssen Abläufe politischer Entscheidungsprozesse sowie Informationen der Verwaltung transparent gemacht werden. Es braucht ausreichend Zeit für Konsultationen.
Zudem müssen geplante Initiativen der Bundesregierung viel stärker von einer in Ruhe durchgeführten, ergebnisoffenen, sorgfältigen und vor allem öffentlichen rechtspolitischen Diskussion begleitet werden. Das ist derzeit nicht ausreichend der Fall.
Grundrechtskonforme Sicherheitsgesetze
Im Koalitionsvertrag hatte die Ampel noch versichert: „Die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte müssen stets gut begründet und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden.” Das Gegenteil davon ist passiert: Bei der Chatkontrolle soll nach Position der Bundesregierung mit einer Innenministerin, die die flächendeckende Überwachung vorantreibt, weiter private Kommunikation durchleuchtet werden.
Das neue Vorhaben der EU will Kommunikationskanäle scannen, die auch Journalist*innen primär und standardmäßig nutzen. Werden Überwachungsmaßnahmen anlasslos durchgeführt, wird das uns allen und auch der Pressefreiheit nachhaltig schaden – in Deutschland und in allen EU-Ländern.
Seit den ersten Snowden-Enthüllungen vor zehn Jahren erleben wir nun die dritte Änderung eines verfassungswidrigen Regelwerks, nämlich des BND-Gesetzes. Der Gesetzgeber verpasst erneut die Chance auf eine längst überfällige, ganzheitliche und verfassungskonforme Reform. Reporter ohne Grenzen und die Gesellschaft für Freiheitsrechte hatten im Dezember 2022 in einer weiteren Beschwerde in Karlsruhe über 30 verfassungswidrige Punkte angegriffen, die gegen die Pressefreiheit, den Quellenschutz und die vertrauliche Kommunikation zwischen Journalist*innen und ihren Informant*innen verstoßen. Diese Einschätzung bleibt bestehen.
Die Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR), die zu einem neuen Umgang mit Sicherheitsbefugnissen von staatlicher Seite führen sollte, ist offenbar von einer Richtschnur zu einem lästigen Nebenprojekt verkommen. Im Koalitionsvertrag sollte die ÜGR die juristische und tatsächliche Wirkung von Überwachungsmaßnahmen auf unser aller Grundrechte einzuschätzen helfen.
Zwar hat das Bundesinnenministerium eine Ausschreibung zur Umsetzung der Maßnahme veröffentlicht, allerdings gibt es deutliche Lücken: So ist unklar, ob und welche Daten Wissenschaftler*innen vonseiten der Landes- und Bundesbehörden für die Evaluation der Sicherheitsgesetze überhaupt erhalten. Eine Verpflichtung der Behörden zur Kooperation gibt es nicht.
Bundestransparenzgesetz und Recht auf Open Data
Die Bundesregierung hat zwar ein Bundestransparenzgesetz versprochen, aber bisher liegen noch nicht einmal die Eckpunkte dafür vor, die bereits für 2022 angekündigt waren. Laut der jüngst veröffentlichten Datenstrategie soll das Gesetz erst im letzten Quartal 2024 verabschiedet werden – das Vorhaben wird damit so weit verzögert, dass es in dieser Legislaturperiode gänzlich zu scheitern droht.
Ein bundesweites Transparenzgesetz ist essenziell für die Nachvollziehbarkeit des Handelns von Behörden und würde damit nicht nur die demokratischen Rechte der Bürger*innen und somit die Demokratie als Ganzes stärken, sondern brächte auch die dringend notwendige Verwaltungsmodernisierung voran.
Zudem spielt mehr Transparenz in der Verwaltung eine wesentliche Rolle für die Pressefreiheit. Journalist*innen sind auf Zugang zu Informationen auch über das Informationsfreiheitsgesetz angewiesen, erleben jedoch immer wieder Hürden, wenn Anfragen nicht beantwortet werden.
Ein Bundestransparenzgesetz muss verlässliche Informationen durch die Verwaltung durchgängig und automatisch verfügbar machen. Auch beim angekündigten Rechtsanspruch auf Open Data geht es bisher nicht vorwärts. Dieser ist zentral, um die Transparenzbestrebungen der Koalition mit Leben zu füllen und um das Potenzial offener Daten für die Gesellschaft zu nutzen.
Der Rechtsanspruch auf Open Data muss jetzt ausgearbeitet werden und umfassend – das heißt ohne Ausnahmetatbestände – formuliert sein. Investitionen in die Bereitstellung und Kompetenzaufbau in der Verwaltung müssen ihn begleiten.
Wirksame Kontrolle für Plattformen und Algorithmen
Automatisierte Systeme und Künstliche Intelligenz kommen in verschiedenen Lebensbereichen und auch im öffentlichen Sektor immer mehr zum Einsatz. Es ist weiterhin dringend notwendig, sowohl Plattformen und Algorithmen wirksam zu kontrollieren als auch Menschen zu ermächtigen, sich gegen negative Auswirkungen zur Wehr zu setzen.
Zu Beginn ihrer Amtszeit plante die Bundesregierung, den Einsatz automatisierter Systeme in der öffentlichen Verwaltung auszuweiten. Allerdings macht der Aufbau begonnener Vorhaben, wie die Einrichtung eines Beratungszentrums für Künstliche Intelligenz, nur langsam Fortschritte. Gleichzeitig fehlt beim Einsatz automatisierter Systeme eine umfassende Strategie für einen verantwortungsvollen Einsatz und Transparenz, etwa durch ein KI-Register.
Trotz Versprechungen im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) anzupassen, stehen auch hier konkrete Vorschläge aus dem Bundesjustizministerium nach wie vor aus. Neben allgemeinen Schwächen stellt algorithmische Diskriminierung das AGG vor grundlegende Herausforderungen. Die anstehende Reform des AGG sollte genutzt werden, um diese Lücken zu schließen.
Das Bündnis F5 besteht aus der Gesellschaft für Freiheitsrechte, Wikimedia Deutschland, Reporter ohne Grenzen, Algorithm Watch und der Open Knowledge Foundation Deutschland. Uns eint der Anspruch, eine demokratische Digitalisierung zu gewährleisten, die auf den Grundpfeilern Offenheit und Transparenz, Teilhabe und Zugang, Schutz der Grund- und Menschenrechte sowie dem Schutz der Belange von Verbraucherinnen und Verbrauchern aufbaut.
Der letzte Abschnitt könnte auch so verstanden werden, das man eine Chatkontrolle für notwendig hält, aber mit der aktuellen Fehlerquote erst einmal ruhen lässt. Dieser Kontrollwahn ist schon fast widerlich.
So dürfte es auch gemeint sein. Ich denke, die gegenwärtigen Entwicklungen und Tendenzen zur Totalüberwachung, Kontrollgesellschaft und dem voranschreitenden Grundrechtabbau zeigen, dass den Herrschenden lediglich die technischen Möglichkeiten Grenzen aufzeigen und es nicht um irgendwelche humanistischen Werte und Prinzipien oder gar dem Erhalt oder Ausbau gesellschaftlicher und individueller Freiheitsentfaltung geht. Machterhalt, wirtschaftliche Effizienzsteigeung und internationale Konkurrenzfähigkeit ist alles, worum es zu gehen scheint.
Mit den neuen technologischen Mitteln wird diese negative Entwicklung weiter gehen, während die Herrschenden dafür allerhöchstens Akzeptanzen und Ausreden schaffen müssen.
Diese Dinge werden aber von bürgerlichen Organisationen gefordert. Die GFF schreibt hier:
https://freiheitsrechte.org/themen/freiheit-im-digitalen/chatkontrolle
Und dann aber wird hier im letzten Abschnitt eine Massenkontrolle per KI gefordert. Was denn jetzt..
Automatisierung und „KI“ wird von den konservativen voellig zu Recht als grosse Chance gesehen, systematische Diskriminierung zu ihren Gunsten tief und kaum angreifbar in den Prozessen und Strukturen zu verankern.
Leider gibt es praktisch keine Politiker, die auch nur fundiert das Problem benennen koennen, oder wollen.
Tja, das wäre ein Thema für eine fortschrittliche Gerechtigkeitspartei.
So hat sich Sozialdemokratie mal definiert, die SPD hat damit seit 30 Jahren nichts mehr zu tun.
Das stimmt, das ist auch auf der anderen Seite des großen Teichs so.
Allerdings können wir davon auch lernen, wie man die „Überwachungsfreunde“ in Nullkommanichts in das genaue Gegenteil drehen kann, nämlich indem man ihnen zur Verfügung stellt, was bereits jetzt an Daten über genau sie selbst vorhanden ist.